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Obwohl die Religionsfreiheit ein Grund- und Menschenrecht darstellt, wird die Ausübung religiöser Praktiken aus verschiedenen Gründen häufig beschränkt oder verboten. Damit wird eine Grenze zwischen der religiösen Mehrheit und der religiösen Minderheit in einer Gesellschaft gezogen, welche soziale Exklusionslinien markiert und legitimiert. Da in demokratisch verfassten Staaten Religionsfreiheit im Allgemeinen als persönliches Grundrecht garantiert wird, lassen sich die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche nicht ohne weiteres verbieten. Um die Einschränkung dieses Grundrechts dennoch legitimieren zu können, spielt das Kriterium «Kultur» eine entscheidende Rolle. Mit dem Argument des kulturellen Unterschieds werden die religiösen Gebräuche, welche die Mehrheit einer Gesellschaft nicht akzeptieren kann, abgelehnt. Solch eine kulturelle Grenzziehung kommt nicht nur in undemokratischen Ländern, sondern, wie die Ereignisse in der Schweiz zeigen, auch in demokratischen Ländern vor.

Im November 2009 sprach die Mehrheit der Schweizer sich in einer Volksabstimmung gegen den Bau von Minaretten aus.[1] Das Resultat, dass die Mehrheit der Schweizer der Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» gegen den Willen des Bundesrates und des Parlaments zustimmte, wird von der internationalen Gemeinschaft als überraschend und problematisch wahrgenommen.[2] Die Antragsteller der Abstimmung verteidigen sich gegen den Vorwurf der Diskriminierung mit dem Argument, dass die Anti-Minarett-Initiative sich nicht gegen den Islam als Religion richte, sondern der Abwehr eines «religiös-politischen Macht- und Herrschaftsanspruches» diene. Die Diskussion um das Verbot, seine Ursachen und möglichen Auswirkungen hält bis heute an. Die Argumente für und wider das Verbot beziehen sich dabei in der aktuellen Diskussion fast ausschließlich auf die Gegenwart der Schweiz und das historisch relativ neuartige Phänomen einer vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohung durch den Islam. Die historische Perspektive wird dabei meist nicht berücksichtigt. Die Dynamik der Diskussion und ihr Verlauf lassen sich jedoch nicht verstehen, ohne den historischen Kontext einzubeziehen.

Wenn man auf die Geschichte der Schweiz zurückblickt, stößt man auf ein vergleichbares Ereignis, nämlich das Schächtverbot von 1893. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Judenemanzipation – vor allem in rechtlicher Hinsicht – weit vorangeschritten. Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie das Recht auf die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen waren durch die Artikel 49 und 50 der Bundesverfassung von 1874 gewährleistet. In den gleichen Zeitraum fällt die hier zu behandelnde Volksabstimmung über das Schächten. Das Schächten, die jüdische Schlachtmethode, wurde als Ergebnis dieser Volksabstimmung verboten und das Schächtverbot in der Bundesverfassung verankert.[3] Seitdem ist das Schächten in der Schweiz verboten und dieses Verbot gilt heute noch.

Die Entscheidung in der Schächtfrage führte von Beginn an zu Konflikten zwischen den Juden in der Schweiz und der nichtjüdischen Schweizer Bevölkerung. Welchen Stellenwert die schweizerischen Juden der Schächtfrage beimaßen, zeigt sich beispielsweise in der Gründung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) im Jahr 1904. Dieser Bund wurde mit dem ausdrücklichen Ziel, gemeinsam auf der Bundesebene gegen das Schächtverbot zu kämpfen, gegründet. Demgegenüber lehnt die Mehrheit der nichtjüdischen Schweizer Bevölkerung die Praxis des Schächtens bis heute als grausam und nicht tolerierbar ab. Deutlich wurde diese Haltung im Jahr 2001/2002, als der politische Versuch der Bundesregierung das Schächtverbot aufzuheben am Widerstand der Bevölkerung scheiterte.

In der vorliegenden Abhandlung beschäftige ich mich mit den folgenden zwei Fragen. Erstens beschreibe ich den Verlauf der Debatte um das Schächtverbot in der Schweiz aus historischer Perspektive. Dabei geht es mir vor allem darum, herauszuarbeiten, inwiefern das Schächten (als religiöse Praxis) in der schweizerischen Gesellschaft problematisiert wurde und wird und wie stark die schweizerische Gesellschaft gegen diese Kultur einer Minderheit eine Abneigung hegte und immer noch hegt. Zweitens beschäftige ich mich mit der Frage, warum das Schächten im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Schweiz verboten wurde. Abschließend möchte ich als Schlussfolgerung aus dem Fall des Schächtverbots zwei Thesen in Bezug auf die kulturelle Grenzziehung vorschlagen.

1. Das Schächtverbot in der Schweiz

Das Schächten

Das Schächten[4] ist eine rituelle Schlachtmethode der Juden, die in der Thora, der Heiligen Schrift des Judentums, vorgeschrieben ist.[5] Beim Schächten werden Tiere durch ununterbrochenen Halsschnitt durch alle weichen Teile des Halses bis zur Wirbelsäule geschlachtet. Dabei ist die vorherige Betäubung nicht erlaubt, weil das Töten allein durch den Schnitt vollzogen werden muss und der Tod nur durch die Bewegung des Tieres nach dem Schlachten kontrolliert werden kann.[6] Das Schächten darf ausschließlich durch qualifizierte Personen, Schochet (Schächter), durchgeführt werden, nicht zuletzt um durch unsachgemäßes Schächten die Qualen des Tieres nicht unnötig zu verstärken.[7] Dem Halsschnitt folgt das möglichst rückstandslose Ausbluten des Tieres, da der Genuss von Blut im Judentum verboten ist.[8]

Die Vorgeschichte des Schächtverbots

Die Ansicht, dass das Schächten Tierquälerei sei, und der Versuch der Einführung eines Schächtverbots haben eine lange Geschichte in der Schweiz. Im Hintergrund standen verschiedene Faktoren, z.B. der Tierschutzgedanke, die Humanisierung der Schlachtmethoden und die Industrialisierung des Schlachtens. Betrachtet man die Schächtfrage vor dem Hintergrund der Geschichte der Juden in der Schweiz, lassen sich für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Phasen des Konfliktes benennen.

In der ersten Phase zeigt sich ein Zusammenhang zwischen dem Bemühen um ein Verbot des Schächtens und der vorangegangenen Judenemanzipation. Die Polemik gegen das Schächten lässt sich in dieser Phase auf eine allgemeine Ablehnung der Judenemanzipation zurückführen. Diese ersten Versuche das Schächten zu verbieten waren vereinzelt und nicht organisiert. In der zweiten Phase ging die Initiative für ein Verbot des Schächtens vorwiegend von den Tierschutzvereinen aus. Die Vereine organisierten den Protest gegen das Schächten und bereiteten damit letztlich die Volksabstimmung vor.

Seit den 1850er Jahren wurde in einigen Kantonen versucht, das Schächten gesetzlich zu verbieten. Im Kanton Aargau, in dem damals die schweizerischen Juden wohnen durften, wurde zwar 1854 das Schächten auf eine indirekte Weise gesetzlich verboten.[9] Wegen einer Petition von Juden wurde das Schächten aber in Oberendingen und Lengnau, in den sogenannten jüdischen Dorfghettos, ausnahmsweise erlaubt.[10]

Als die Israelitische Gemeinde 1859 in Baden gegründet wurde, wurde die Schächtfrage erneut aktuell. Die dortigen Juden wollten auch in Baden das Schächten legalisieren. Diese Bemühungen um eine Zulassung des Schächtens führten zu einer neuen Debatte. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob das Schächten Tierquälerei sei oder nicht. Nach einer Besichtigung des Schächtens in Endingen kamen zwei Sachverständige, die der aargauische Polizeidirektor mit der Untersuchung des tierschützerischen Aspekts des Schächtens beauftragt hatte, zu dem Schluss, dass das Schächten nicht schmerzhafter und grausamer sei als das Töten des Tieres durch einen Schlag auf den Kopf.[11] Obwohl die Regierung aufgrund dieser Ergebnisse dem Großen Rat im Oktober 1861 einen Gesetzesvorschlag zur Abänderung des Gesetzes über die Tierquälerei überwies, wurde die Behandlung dieses Gesetzesvorschlags wegen der aufkommenden Emanzipationswirren bis 1866 nicht in Angriff genommen.[12]

Der Kanton Aargau war der einzige Kanton, der die Judenemanzipation als Innenpolitik behandeln musste, weil die meisten schweizerischen Juden im Kanton Aargau lebten. In den 1850ern und 1860ern waren die Emanzipationsgegner in der Mehrheit und unter dem Einfluss der anti-emanzipatorischen Stimmung wurde versucht, das Schächten zu verbieten.

Vor dem gleichen Hintergrund wurde das Schächtverbot im Kanton St. Gallen durchgesetzt. Offiziell und nach außen hin wurde als Grund für das Verbot der Aspekt der Tierquälerei angeführt. Ausschlaggebend für die Begründung des Schächtverbots war der Tierschutzgedanke. Allerdings lässt sich das Verbot wahrscheinlich nicht allein auf den Aspekt der Tierquälerei zurückführen, sondern muss vielmehr in engem Zusammenhang mit der 1866 neu gegründeten israelitischen Gemeinde in St. Gallen, mit der Angst vor einer Zunahme der Juden und der damit verbundenen Angst vor einer wirtschaftlichen Konkurrenz durch die Juden gesehen werden.[13]

1866 forderte ein Obmann (Metzger von Beruf) ein Verbot des Schächtens mit der Begründung, dass diese Praxis tierquälerisch sei. Der Gemeinderat sprach daraufhin im Sommer 1866 kurzerhand ein Verbot des Schächtens aus.[14] Dieses Verbot wurde jedoch bereits ein Jahr später aufgrund jüdischer Einwände wieder aufgehoben.[15]

1874 wurde in St. Gallen erneut versucht, ein Verbot des Schächtens durchzusetzen, indem der Gebrauch der Schussmaske von Bouterole beim Schlachten zur Pflicht gemacht wurde.[16] In der öffentlichen Debatte um das Verbot des Schächtens beriefen sich die Gegner des Schächtens nun immer öfter auch auf die «Sittlichkeit und Wahrung der öffentlichen Ordnung» - hier wird sichtbar, dass der Gedanke des Tierschutzes nicht den einzigen Grund für die Vorbehalte gegen die Praxis des Schächtens bildete.[17] Dieser Vorstoß, auf indirektem Wege das Schächten zu verbieten, scheiterte an der Intervention des Bundes.[18]

Die neue Bundesverfassung von 1874 brachte zwei Änderungen bezüglich der Schächtfrage mit sich. Zum einen sollte das Schächten als religiöse Handlung erlaubt werden, weil die Bundesverfassung von 1874 den Juden die Gewissens- und Kultusfreiheit gewährleistete. Die Schächtgegner brachten daraufhin neue Argumente für ein Verbot des Schächtens in die Diskussion ein. Neben dem Aspekt der Tierquälerei betonten sie, dass es sich nicht um eine religiöse Praxis handele und das Schächten aus ihrer Sicht zugleich der öffentlichen Ordnung und Moral widerspreche.

Die Schweizer Juden konnten sich nun ihrerseits unter Bezug auf die Religionsfreiheit beim Bundesrat über die Schächtverbote in einzelnen Kantonen beschweren und diese anfechten. Umgekehrt konnte der Bund sich seinerseits in die kantonale Schächtfrage einmischen. Die Schächtfrage wurde dadurch zu einer bundesstaatlichen Angelegenheit. Damit verlagerte sich auch der Konflikt um das Schächten auf die Ebene des Bundes. Die Gegner des Schächtens mussten sich national organisieren, um ihr Ziel zu erreichen.

Die Tierschutzvereine und das Schächtverbot von 1893

Bei der Einführung des Schächtverbots von 1893 waren die Tierschutzbewegung und die deutsch-schweizerischen Tierschutzvereine eine treibende Kraft. Für die Tierschutzvereine war die Ächtung des Schächtens als Tierquälerei seit ihrer Gründung eines ihrer zentralen Anliegen. Vor allem seit den 1880er Jahren widmeten sie sich der Schächtfrage mit voller Kraft. Im April 1886 richtete der Centralvorstand der Schweizerischen Tierschutzvereine eine diesbezügliche Eingabe an das Departement des Inneren. Sie verlangten, dass das Töten der Schlachttiere in den öffentlichen Schlachthäusern und den Privatschlachtereien ohne vorgängige Betäubung der Schlachttiere durch Schlag oder Schuss im ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft verboten werden solle.[19] Sie waren fest überzeugt, dass das Schächten an sich mit seinen Vorbereitungen und Ausführungen eine arge und große Tierquälerei in sich schließe und dass es in keiner Weise ein unerlässliches Requisit der mosaischen Religion sei.[20] In der Petition beriefen sich die Gegner auf die Artikel 50 und 4 der Bundesverfassung im Namen der Moral und der öffentlichen Ordnung sowie im Namen der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Der Bundesrat forderte als Reaktion auf diese Petition einen Beweis dafür, dass das Schächten tatsächlich eine Tierquälerei sei und dass durch deren Anwendung die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit beeinträchtigt werde.[21]

Inzwischen wurden von den Tierschutzvereinen Versuche zur Einführung des Schächtverbots auf der Kantonalebene unternommen. Besonders aktiv waren sie in den Kantonen Aargau und Bern. In Baden (Kanton Aargau) wurden drei jüdische Metzger wegen Verletzung des Tierquälereigesetzes von 1854 und des Gesetzes von 1855, welches das Schächten ausnahmsweise nur in Oberendingen und Lengnau gestattete, vom Tierschutzverein in Aargau angeklagt und schließlich als schuldig verurteilt.[22] In Bern wurde eine Verordnung des bernischen Regierungsrates über das Schlachten von Vieh und über den Fleischverkauf vom 14. August 1889 erlassen, Artikel 13 dieser Verordnung legte ein allgemeines Schächtverbot fest.[23]

Die jüdischen Gemeinden der jeweiligen Kantone legten sofort beim Bundesrat Beschwerde ein. Die beiden Beschlüsse wurden durch den Entscheid des Bundesrates vom 17. März 1890 zurückgewiesen.[24] Nach einer langen Untersuchung beschloss der Bundesrat schließlich, dass das Schächten als eine gottesdienstliche Handlung der Israeliten anzuerkennen sei und dass das Schächten aufgrund des Artikels 50, der die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlung innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistete, erlaubt werden dürfe. Auch sei das Schächten keine Tierquälerei, wenn es durch bestimmte Fachleute durchgeführt werde. Gegen diesen Beschluss des Bundesrates erhoben die Kantone Bern und Aargau einen Rekurs im Februar 1891.[25] Aber dieser wurde nach der Verhandlung im Nationalrat zurückgewiesen.[26]

1892 lancierten die Tierschutzvereine eine Volksinitiative zur Partialrevision der Bundesverfassung, um das Schächten auf der gesamten eidgenössischen Ebene zu verbieten. Sie sammelten die nötigen Unterschriften und die Volksabstimmung kam zustande.[27] Drei Viertel der Unterschriften stammten allein aus Bern, Aargau und Zürich, wo die Tierschutzvereine besonders aktiv waren. In der Volksabstimmung vom 20. August 1893 erreichte die Initiative der Tierschutzvereine gegen den Willen des Bundesrates mit 191,527 Ja- gegen 127,101 Nein-Stimmen problemlos die Volksmehrheit und mit elfeinhalb Ja- gegen zehneinhalb Nein-Stimmen knapp die Mehrheit in den Ständen.[28] Trotz des großen Interesses der schweizerischen Bürger an der Volksabstimmung zum Schächtverbot war die Stimmbeteiligung, die bei rund 47% lag, niedrig.[29] Die gesamten französischsprachigen und italienischsprachigen Kantone verwarfen die Initiative, während die vorwiegend protestantischen Kantone der Deutschschweiz, allen voran Aargau, Bern und Zürich, in denen die Tierschutzvereine ihre Kampagne besonders engagiert führten, ihr mit absoluter Mehrheit zustimmten.[30]

Die Nachgeschichte des Schächtverbots

Die Aufnahme des Schächtverbots in die Bundesverfassung brachte die Diskussion über das Schächten jedoch nicht zu Ende. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde versucht, das Schächtverbot auch auf Geflügel auszudehnen. Das Bundesgericht war aber der Auffassung, dass das Schächten von Geflügel nicht unter das Schächtverbot falle. Dieses Urteil bedeutete, dass das Wort «Viehgattung», das in der Bundesverfassung stand, nicht für Geflügel galt.

Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre wurde die Aufhebung des Schächtverbots neben der Aufhebung des Jesuitenverbots und des Klosterartikels diskutiert. Die Aufhebung des Schächtverbots fand aber nicht statt und die Diskussion ging vielmehr zunehmend in die Richtung einer Ersetzung des Verfassungsartikels durch eine entsprechende Vorschrift in einem zu schaffenden schweizerischen Tierschutzgesetz.[31] Mit der Zustimmung des Volkes bei den zwei Volksabstimmungen (1973 und 1978) wurde das schweizerische Tierschutzgesetz (TschG) angenommen und das Tierschutzgesetz sowie die Tierschutzverordnung traten am 1. Juli 1981 in Kraft.[32] Zwar verschwand das Schächtverbot aus der Bundesverfassung, aber das Schächtverbot ist weiterhin im Art. 20 im 7. Abschnitt des Tierschutzgesetzes enthalten.[33]

1997 gab es einen erneuten Versuch, wie schon während der Jahrhundertwende, das Schächtverbot auch auf Geflügel auszudehnen, aber der Versuch scheiterte am Protest des SIG.

Als jüngster Vorgang bezüglich des Schächtverbots lässt sich der Versuch zur Aufhebung des Schächtverbots vom Bundesrat 2001/02 durch die Revision des Tierschutzgesetzes nennen. Der Bundesrat vertrat den Standpunkt, dass das betäubungslose Schlachten für Juden und Muslime eine wichtige Kulthandlung darstelle und die Verhältnismäßigkeit des Schächtverbots nicht gegeben sei.[34] Dieses Vorhaben des Bundesrates stieß jedoch auf heftigen Widerstand von Bürgern, besonders Tierschützern, infolgedessen musste er die Aufhebung des Schächtverbots aufgeben.

2. Gründe und Hintergründe des Schächtverbots

Die Schächtfrage führt bis heute immer wieder zu Diskussionen und Konflikten zwischen Schweizer Juden und nichtjüdischen Schweizern und belastet darum bis heute das Verhältnis beider Gruppen. Nicht zuletzt kann die Schächtfrage immer wieder zu einer Erneuerung und Aktualisierung von allgemeinen Vorbehalten gegenüber Juden führen.

In der bisherigen Forschung herrscht ein weitgehender Konsens darüber, dass der Versuch zur Einführung des Schächtverbots und die Annahme des Schächtverbots als Verfassungsartikel durch die Volksabstimmung vom 20. August 1893 vom Antisemitismus beeinflusste Ereignisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellen.[35] In der Forschung findet sich häufig der Hinweis, dass die Annahme des Schächtverbots auf den damals im deutschen Sprachraum verbreiteten Antisemitismus zurückgeführt werden könne. Der Tierschutzgedanke lässt sich so als eine verdeckte und latente Form des Antisemitismus verstehen.[36] Als Indiz hierfür lässt sich das Ergebnis der Volksabstimmung heranziehen, aus der klar hervorgeht, dass sich die deutschsprachigen Kantone überwiegend für ein Verbot des Schächtens aussprachen, wohingegen die französisch- und italienischsprachigen Kantone es ablehnten. Der Zusammenhang zwischen Schächtverbot und Antisemitismus lässt sich vielfach belegen. Dieses Argument kann jedoch eine weitere Frage nicht beantworten: Warum wurde die Schächtfrage im Unterschied zu den anderen deutschsprachigen Ländern seit der Judenemanzipation gerade in der schweizerischen Gesellschaft heftig diskutiert und dort schließlich zum Kristallisationspunkt einer breiten staatsrechtlichen Debatte?[37]

Im 19. Jahrhundert änderte sich langsam die grundsätzliche Einstellung zu Tieren und der moderne Tierschutzgedanke entstand. Die Auseinandersetzung um das betäubungslose Schlachten nahm in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stark zu und neue Schlachtmethoden wurden entwickelt. Vor diesem Hintergrund wurde das Schächten in vielen europäischen Ländern infrage gestellt und es wurde darüber diskutiert, ob das Schächten Tierquälerei sei oder nicht.[38]

In den deutschsprachigen Ländern war die Schächtfrage neben dem Aktionsgegenstand der Tierschützer auch das antisemitische Aktionsgebiet. Aber die Bedeutung, welche der Schächtfrage beigemessen wurde, war in den jeweiligen Ländern unterschiedlich. Im Deutschen Reich, in dem offensichtlich antisemitische Parteien und Zeitungen die Judenemanzipation wieder infrage stellten, war die Schächtfrage ein marginales Thema.[39] Im Reichstag wurde die Schächtfrage aufgrund der Petition vom Vorstand des Verbandes deutscher Tierschutzvereine, die Blutentziehung ohne vorherige Betäubung beim Schlachten zu verbieten, in der Session 1885/86 verhandelt, aber die Agitation gegen das Schächten blieb erfolglos.[40] Trotz der mehrfachen Einwirkung der Tierschutzvereine wurde das Schächten nach der Verhandlung 1887 im Reichstag aufgrund eines vom Reichstag eingeholten Sachverständigengutachtens nicht zur Tierquälerei erklärt.[41] Eine Ausnahme war das Königreich Sachsen, in dem ein Jahr früher als in der Schweiz das Schächten verboten wurde.[42]

Auch in Österreich wurde die Diskussion über das Verbot des betäubungslosen Schlachtens unter dem Einfluss der Tierschutzbewegung geführt und das Schächten wurde als problematisch angesehen. Besonders in Wien, wo der Anteil der Juden hoch war, war eine Konfrontation mit Tierschützern unvermeidlich.[43] Die Ablehnung des Schächtens durch die Tierschützer manifestierte sich im elften internationalen Tierschutzkongress 1883 in Wien.[44] Das Verbot des betäubungslosen Schlachtens wurde im Rahmen einzelner Schlachthofordnungen eingeführt, aber diese wurden entsprechend der Auffassung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes aufgehoben.[45] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte auch in Österreich eine antisemitische Stimmung. Die Schächtfrage betraf nicht nur den bloßen Tierschutzgedanken, sondern wurde vielfach als Vehikel tagespolitischer und antisemitischer Auseinandersetzungen benutzt.[46]

Der in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verbreitete Antisemitismus steht offenbar in enger Beziehung zur Schächtfrage. Aber die unterschiedliche Gewichtung der Schächtfrage in den verschiedenen Ländern lässt sich nicht nur mit diesem Argument erklären. Antisemitische Phänomene entstehen nicht nur aus dem «ewigen Antisemitismus,»[47] sondern hängen immer mit historischen und zeitlichen Konstellationen zusammen. Daher ist es umso wichtiger, die jeweils eigene Bedeutung des Antisemitismus in den jeweiligen Ländern zu verstehen.

In der Schweiz entstanden keine Parteien und Zeitungen, die einen offenen Antisemitismus bekundeten, und abgesehen von wenigen Ausnahmen gab es keine radauantisemitische Bewegung und kein vergleichbares Ereignis wie die Dreyfusaffäre in Frankreich.[48] Die Zahl der Juden war im Vergleich zu den Nachbarländern gering und ihre Rolle in der schweizerischen Gesellschaft war begrenzt.[49] Trotzdem lassen sich Formen des Antisemitismus historisch auch in der Schweiz nachweisen. Dabei handelt es sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – insgesamt um einen latenten Antisemitismus. Der Antisemitismus verband sich in der Schweiz im ausgehenden 19. Jahrhundert besonders mit dem Rückgriff auf Traditionen und mit der Verstärkung des inneren Zusammenhalts sowie einem integralen Nationalismus.[50]

In dieser Zeit gab es eine Änderung in der politischen Welt: In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre begannen die Freisinnig-Liberalen und die Katholisch-Konservativen, sich einander anzunähern. Im Jahr 1891 trat Josef Zemp aus Luzern als erster Vertreter der Katholisch-Konservativen (der späteren Katholisch-Konservativen Volkspartei und heutigen Christlichdemokratischen Volkspartei, CVP) in den Bundesrat ein. Dieser politische Prozess bedeutete die Versöhnung zwischen den Freisinnig-Liberalen und den Katholisch-Konservativen, weil sich die Katholisch-Konservativen nach der Niederlage des Sonderbundskriegs am Rand der politischen Welt befanden.

Aus der Sicht von Beatrix Mesmer stellt das Schächtverbot ein Zeichen für das Ende des pragmatischen Liberalismus dar, eine Zeit, die durch den Rückgriff auf traditionelle Werte charakterisiert war. Mesmer beschreibt eine Tendenz, «echte Schweizerart» und «helvetische Normen» zu redefinieren. Bei dieser Redefinition der nationalen Identität habe das Schächtverbot die Funktion gehabt, sowohl die einheimischen, als auch die ausländischen Juden auszugrenzen.[51]

Angesichts dieser sozialen Tendenz kann man das Schächtverbot nicht nur als antijüdisches und antisemitisches Ereignis betrachten, sondern zugleich auch als einen hiermit in engem Zusammenhang stehenden Faktor der inneren Nationsbildung. Vor diesem Hintergrund lässt sich die bundesweite Initiative der Tierschutzvereine als eine Bewegung zur Stärkung des inneren Zusammenhalts der Schweizer Nation verstehen. Es lassen sich also drei Faktoren benennen, die sich hierbei wechselseitig überlagern und durchdringen: der Tierschutzgedanke, der latente Antisemitismus und die innere Nationsbildung. Diese drei Faktoren lassen sich nicht isoliert voneinander betrachten, sondern müssen als Einheit gesehen werden.

Dieser Zusammenhang spiegelt sich auch in der Argumentation der Tierschützer wider. Die Argumentationsführung gegen das Schächten hatte sich wegen der Veränderung der gesellschaftlichen Konstellation verändert. Am Anfang ging es ausschließlich um «Tierquälerei», dann wurde das Argument, dass das Schächten «kein religiöses Ritual» sei, hinzugefügt und schließlich ging es um die kulturelle Frage und kulturelle Normen: Das Schächten widerspreche der schweizerischen Kultur und der öffentlichen Ordnung.

Die Tierschutzvereine hielten das aus ihrer Sicht brutale Verfahren des Schächtens per se für Tierquälerei. Das Niederlegen der Tiere, der in einem Zug durchgeführte Halsschnitt und der völlige Blutauszug waren für sie nicht zu akzeptieren.[52] Diese Betrachtung lässt sich als anthropozentrischer im Gegensatz zu einem zoozentrischen Tierschutz verstehen – im Vordergrund stand das Gefühl der bedrohten Sittlichkeit.

Der eifrigste Schächtgegner in den Tierschutzvereinen war Keller-Jäggi, der Präsident des Tierschutzvereins des Kantons Aargau. Er war die treibende Kraft der Initiative gegen das Schächten und er propagierte die Wichtigkeit des Schächtverbots, indem er viele Vorträge hielt und viele Publikationen über die Schächtfrage veröffentlichte. Er argumentierte, dass das Schächten der öffentlichen Ordnung und der Moral widerspreche.[53] Er behauptete, dass eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten im Kanton Aargau nur gelten könne, solange die Juden Bürger zweiter Klasse seien. Aber nach der Emanzipation müssten Christen und Juden vor dem Gesetz gleich sein. Wenn die Israeliten auf alle Rechte aargauischer und schweizerischer Bürger Anspruch erheben würden, hätten sie «auch die sittlichen Anschauungen des Schweizervolkes, dem sie nunmehr in allen rechtlichen Beziehungen angehören, zu respektieren.»[54] Mit dieser Argumentation ging er davon aus, dass das Ausnahmegesetz für das Schächten abzuschaffen sei und das Schächten in der ganzen Schweiz verboten werden müsse. Für ihn bedeutete die Emanzipation keineswegs die Anerkennung der anderen Kultur oder die Toleranz gegenüber der anderen Kultur, sondern eine völlige Assimilation mit schweizerischen Anschauungen und schweizerischer Kultur.

Bei der Schächtfrage ging es nicht nur um Tierquälerei, sondern auch um die Beseitigung der fremdartigen Kultur, die das Schächten zum Gegenstand hatte. Immer wenn die Tierschützer des Antisemitismus bezichtigt wurden, leugneten sie antisemitische Motivationen. Vieles spricht dafür, dass sich die Bewegung für ein Verbot des Schächtens mit antisemitischen Vorbehalten vermischte und es den Gegnern des Schächtens auch darum ging, eine kulturelle Assimilation der Schweizer Juden zu erzwingen. Die Vorbehalte richteten sich daher nachweislich nicht nur gegen die vermeintliche Tierquälerei, sondern ebenso gegen kulturelle Praktiken, die von der Mehrheit der Schweizer als Bedrohung ihrer nationalen Identität wahrgenommen wurden. Der «Kampf» um das Schächtverbot lässt sich – wie gezeigt wurde – daher auch als ein «Kampf» für die Bewahrung der «schweizerischen Kultur» verstehen.

Aus dem Fall des oben dargestellten Schächtverbots lässt sich ableiten, dass die Bewahrung der eigenen Kultur die Ausschließung der fremdartigen Kultur zur Folge hatte. In vielen Gesellschaften zeigen sich Abgrenzungen/Exklusionsprozesse von sozialen Gruppen, welche die gesellschaftliche Mehrheit repräsentieren, gegenüber Gruppen, die als Minderheiten wahrgenommen werden. Die Gründe dafür sind vielfältig und sie hängen von der gesellschaftlichen Konstellation ab. Bei der Schächtfrage wurde das Schächten des jüdischen religiösen Rituals (der jüdischen Kultur) aus der schweizerischen Gesellschaft ausgeschlossen, um, so die zeitgenössische Lesart, die «schweizerische Kultur» bewahren zu können. Diese kulturelle Grenzziehung wurde von der Mehrheit (nichtjüdischen Schweizern) gegen den Widerstand der Minderheit (Juden) vorgeschlagen und durchgeführt.

3. Fazit

Die Schweiz wird oft als das Model eines multikulturellen Landes betrachtet. Ihre Verfassung garantiert seit 1874 die Kultus- und Gewissensfreiheit und die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Der Fall des «Schächtverbots» zeigt aber, dass eine Mehrheit auch mit der demokratischen Methode der Volksabstimmung in der multikulturellen Gesellschaft Hegemonie ausüben kann.

Daraus lassen sich zwei Thesen ableiten. Erstens: «Religion» bleibt nach wie vor eines der stärksten Kriterien für Grenzziehungen innerhalb einer Gesellschaft. «Religion» wird dabei häufig mit «Kultur» gleichgesetzt oder ersetzt. Der Begriff der Kultur lässt sich dabei noch schwerer definieren als Religion und bildet somit ein sehr dehnbares Kriterium. Dies gilt auch in einer demokratischen Gesellschaft.

Zweitens: Grenzziehungen innerhalb einer Gesellschaft können sich durch Auseinandersetzungen, Debatten und Konflikte immer wieder verändern. Dabei hängt es immer von der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konstellation ab, wie die Debatten verlaufen und wo am Ende die Grenzen gezogen werden.